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Mit einem Revolver bewachte ein Ranger 1949 an der Küste von Maine einen gestrandeten Wal. Die Waffe und der Gestank hielt Schaulustige ab. Nur ein paar Neurologen kamen angereist, um das Hirn des Wals zu sezieren, unter ihnen auch ein 34-Jähriger namens John Cunningham Lilly. Der hatte revolutionäre Apparaturen erfunden, um Gehirnströme auf Monitoren sichtbar zu machen; er hatte Katzen und Affen Elektroden implantiert und damit in ihren Hirnregionen Glücksgefühle oder negative Reize ausgelöst. Nun wollte er seine Technik bei Meeressäugern erproben.
Durch das Betätigen eines Schalters konnten Affen alle drei Minuten einen org*smus auslösen, bis sie nach 16 Stunden erschöpft in Tiefschlaf fielen, um am nächsten Morgen damit von vorn anzufangen. Bei negativen Reizen wurden sie bald depressiv. Nicht so Delfine. Nach der Arbeit am Hirn des gestrandeten Wals kartografierte Lilly die Hirne der Delfine und entdeckte unter anderem, dass Delfinhirne groß und komplex genug sind, um einfache Impulse anders zu verarbeiten, als die Affen es taten. Diesem Geheimnis wollte Lilly auf die Spur kommen.
Gemäß seinem Wahlspruch "Füge deinem Nächsten nicht zu, was du dir nicht selber zufügst" bohrte er sich selbst kleine Kanülen in den Schädel. Da das zwar grässliche Donnergeräusche erzeugte, aber ansonsten schmerzfrei war, machte er sich 1954 daran, den Delfinen solche Kanülen in den Kopf zu bohren, um dann millimeterweise Elektroden ins Gehirn einzuführen. So gelangte er durch viele dumpfe Regionen zu glückseligen Inseln in den Gehirnfurchen. Die Delfine lernten auf Anhieb, mit der Rückenflosse einen Schalter zu betätigen, der einen elektronischen Glücksreiz auslöste und bei Manipulationen in negativen Zentren reagierten sie nicht mit Depression oder Panik, sondern konnten die Impulse offenbar psychisch verarbeiten. Aber wie?
Um diese Frage zu beantworten und ungestört forschen zu können, kaufte Lilly 1959 auf den Virgin Islands einen Küstenstreifen, auf dem er sein Labor einrichtete und ein gewaltiges Becken freisprengte. Dafür opferte er sein ganzes Vermögen. Im Flugzeug transportierte er die Delfine Lizzie und Baby auf die Insel. Mit Hydrofonen nahm er ihre Hilferufe auf, die immer dann einsetzten, wenn er die beiden trennte. Lilly untersuchte auch ihre Echolotung, hielt aber die Resultate lange geheim im Zweiten Weltkrieg hatte er für die US-Armee Kontrollsysteme für die Atmung von Kampffliegern entwickelt, die dann patentiert wurden. Er wusste, dass das Militär nicht davor zurückschrecken würde, Delfine zu dressieren, um Minen zu orten. Das widersprach seiner Ethik. Denn beim Spielen mit Lizzie und Baby meinte er zu erkennen, dass ihre Intelligenz so hoch war wie die des Menschen, wenn nicht gar höher.
Als Lizzie und Baby an einer Infektion starben, machte sich Lilly schwere Vorwürfe. Aber er glaubte erkannt zu haben, dass sie schon mit einer Infektion aus dem Delfinarium gekommen waren. Deshalb wollte er zwei Tiere aus freier Wildbahn besitzen, die ihm der damals bekannte Delfinfänger Milton Santini beschaffte. Elvar und Peter wurden zu gleichberechtigten Partnern. Lilly war sich nicht mehr sicher, ob er die Delfine untersuchte oder sie ihn. Immerhin lachten sie ihn ab und zu aus. Und hatte er auf den Tonbändern von Lizzie nicht gehört, dass ihre letzten Worte englisch waren? Eindeutig: Sie hatte, so fand er bei langsamerem Abspielen der Aufnahmebänder heraus, über Lillys Versuche gesagt: "This is a trick."
Delfindialekte
Aus der Quantenphysik wusste Lilly, dass der Beobachter mit seinen Erwartungen die Anordnung und den Verlauf von Experimenten beeinflusste. Deshalb wollte er den Delfin Peter von jemandem bewachen lassen, der keine Biologe war.
So wie Louis B. Leakey für die Erforschung der Schimpansen Jane Goodall wählte, so bevorzugte auch Lilly eine Frau: Margaret Howe. Sie lag wochenlang mit dem Delfin im Pool und wurde dessen Mutter, Freundin und wie Lilly meint auch "Geliebte". Bis ihre Haut so spröde war, dass sie wieder aus dem Wasser steigen musste, schließlich war sie, biologisch gesprochen, "ein Landsäuger".
Delfin Peter war so intelligent, dass er die Experimente nach Lust und Laune abwandelte. Fünf Mal hatte er auf Befehl von fünf verschiedenfarbigen Bällen den orangenen geholt. Doch dann gehorchte er nicht mehr. Und drehte den Spieß um. Peter begann die Forscher an der Nase herumzuführen, natürlich aus Liebe zum Menschen.
Wenn sich Lilly in den Pool warf und so tat, als würde er ertrinken, holten ihn die Delfine vom Grund und trugen ihn an Land. Sie versuchten sogar, mit ihm auf Englisch zu reden. "WA-TER" konnten die Delfine knacklauten. Oder wenn Lilly am Morgen mit seinem Hydrofon an den Pool kam "AL-RIGHT, LETS GO". Da er dachte, dass Delfine intelligenter als die Menschen sind, hielt er es für einfacher, ihnen Englisch beizubringen, als selbst "Delfinisch" zu lernen. Immerhin ahmten sie spontan gewisse Wörter nach genauso wie ein kleines Kind am Anfang des Spracherwerbs. Doch so virtuos ihr Lautapparat in hohen, für das menschliche Ohr nicht hörbaren Frequenzen ist: Fürs Englisch ist er denkbar ungeeignet.
Zu diesem Schluss kam Alexandra Morten, die viel später die 1280 Bänder mit Aufnahmen von Delfingesängen abhörte und sortierte. Sie hatte mit "Gummiohren", die Lillys eigenen Ohren nachgebildet waren, in der Villa herumlaufen müssen, um seinen Spleens Genüge zu tun. Sie beschloss dann allerdings, Orcas in Freiheit zu studieren, da die Erforschung ihrer "Dialekte" mehr Gewinn versprach als die Englischstunden für Delfine im Pool. Auch Lilly stellte seine Forschungen ein, aber aus anderen Gründen.
Rund 30 Leute arbeiteten während Jahren an Lillys Projekt. Bis er eines Tages bei einem LSD-Trip einsah, dass er die Tiere nicht länger in seinem, wie er es ausdrückte, "KZ" einsperren konnte. So beschloss er 1967, seine Forschungen abzubrechen. "Noch bevor ich Gelegenheit hatte, diesen Entschluss meinen Kollegen mitzuteilen", trat ein Delfin namens Sissy in Hungerstreik und starb. Fünf weitere brachten sich aus tierischer Liebe ebenfalls um, und nur drei konnten in Freiheit entlassen werden. Doch weit wichtiger war nun, dass Lilly selbst sich von seinen Zwängen befreien konnte. Seine Forschungen schlugen um in einen seltsamen Egotrip: Free Lilly.
Schweben im Salztank
Lilly hatte schon eine Psychoanalyse hinter sich. Nun folgte die Selbstanalyse im so genannten Samadhi-Tank, den er 1954 erfunden und ständig weiter entwickelt hatte. Darin liegt der Mensch bei 34,5 Grad Celsius in einer Salzlösung im Dunkeln, er schwebt und atmet durch eine Sauerstoffmaske. So befreit sich das Gehirn langsam von äußeren Reizen und rauscht in Innenwelten ab. In andere Räume. Und andere Schöpfungen.
Das beschreibt er 1972 in seinem Buch "Das Zentrum des Zyklons": Sonnen explodieren, purpurne Schlingpflanzen steigen aus der Ursuppe, durch ihre Schlingen schwingen sich nicht Affen, sondern fremdartige Fische, Einzeller tanzen und teilen sich immer weiter. Lilly wird zu seiner "eigenen Spermazelle", die sich ein Ei sucht, er erlebt, wie er sich selbst gebiert.
Kosmische org*smen durchströmen seinen Leib. Um den Rausch zu steigern, setzt Lilly immer mehr LSD ein. Damit schien er die Grenzen der Vernunft überschritten zu haben. Denn nun erschienen ihm "zwei Wächter" aus dem All, die ihn als Schutzengel und Abgeordnete aus der "Zentrale des kosmischen Zufalls" durchs Leben begleiten.
Der kosmische Zufall führt fortan zu verschiedenen schicksalhaften Begegnungen mit Delfinen. Einmal meditiert Lilly an einem Strand, nachdem er mit 60 nackten Leuten in einem kleinen Raum Erfahrungen gesammelt hat, wie sie sich ein indischer Guru nur erträumen kann. Jetzt meditiert er also am Meer und siehe da: ein Zeichen! Zwei Delfine springen aus dem Wasser. Wird das die Rettung der Menschheit sein?
Lilly dämmerte, dass ferne Galaxien, auf denen "die Halbleiterstoffe" die Regierung übernommen und alles Leben ausgelöscht haben, mit ihren Schwingungen den Menschen dazu treiben, die Delfine und Wale mit ihrer 30 Millionen alten Weisheit auszurotten, um uns dann als Sklaven der Halbleitercomputer auch bald auszuschalten. Einmal rief Lilly im Rausch sogar beim Weißen Haus an, um die US-Regierung zu warnen. Kurz danach wurde er in eine Klinik eingeliefert.
Lilly war nicht der Einzige, der unter Drogen auf Gedanken kam, die unser übliches Wertesystem zum Wanken bringen. Schon Antonin Artaud, der französische Experimentaldichter, hatte 1932 im Opiumrausch Delfine springen sehen. Sie verkörperten, so meinte er, "die platonischen Ideen". Sie steigen aus dem inneren Urmeer auf und verkünden Wahrheiten eines anderen Lebens. Jenes echten Lebens, von dem unser Alltag nur ein Abklatsch ist. Dieses Leben kann man, so Artaud, nur auf der Bühne zeigen. Indem man das Theater aus den Schauspielhäusern in Fabrikhallen verlegt, die Zuschauer an die Stühle fesselt, Lichtblitze und gewaltiges Dröhnen auf sie loslässt, bis ihre Reizschwelle gebrochen ist und sie für die anderen Wahrheiten empfänglich sind. Für die Delfine.
Auch Artaud hat, wie Lilly, an die tiefere Weisheit der Drogen geglaubt. Beide verachteten den Alkohol. Alkohol, sagte Artaud, ist eine Droge, um die Menschen zu verdummen und gefügig zu machen. Lilly ließ sich zwischen 1964 und 1966 von Sandoz kiloweise LSD kommen. Im Rausch trat er in andere Räume, andere Wirklichkeitsebenen und hoffte, direkt mit den Delfinen in Kontakt zu kommen.
Es war die Zeit der Hippies. Psychedelische Bands stürmten die Charts. In Stanley Kubricks "Space Odyssey 2001" werden die Astronauten vom Bordcomputer HAL bedroht, der die Menschen auslöschen will wie Lillys extragalaktische Halbleiterzivilisationen. Kubricks Film endet mit einer legendären 17-minütigen Rauschvision, bevor der Held schließlich in einem anderen Raum steht, irgendwo in der vierten oder fünften Dimension, und Gott trifft. Genau in diese Räume war auch Lilly eingedrungen und den "zwei Wächtern" begegnet. Nun also wurde seine Pionierarbeit vom Zeitgeist überholt und zur Massenkultur der Hippies.
Er selbst begann alle erdenklichen fernöstlichen Weisheiten in einem wahren Konsumrausch zu erkunden, darunter Trance und Telepathie. Davon berichtet er in einer psychedelischen Autobiografie, die mit dem Urknall und der langsamen Entstehung seiner eigenen DNA beginnt und mit allerlei Exzentrizitäten endet, die Lilly mit viel Selbstironie aufzeichnet. Er wirkt in seinen Büchern wie Buster Keaton auf einem Eso-Trip. Lilly lief etwa mit einem Stein auf dem Kopf auf Berge, um dann mit dem Stein sein altes Ich den Hang hinunterzuwerfen. Ab und zu fiel er vom Fahrrad und landete im Krankenhaus dort machte er im Koma Todeserfahrungen. Und wieder tauchte er in die Tiefen der Delfinwelten. Er verlor sich, wie Freud gesagt hätte, in der ozeanischen Lust.
Ozeanische Lust
Der Ozean war schon immer ein Bild für freie Sexualität. Mann und Frau strömen als Wellen ineinander. Der Wille wird zur Welle und die Welt zum Wahn. Der Gott des Rausches, Dionysos, hatte bereits bei den alten Griechen Piraten auf einem Schiff mit seinen Flötenklängen behext und ins Wasser getrieben, wo sie sich in Delfine verwandelten. Dieses alte dionysische Wissen, schrieb Lilly, wurde vergessen und vom Christentum geradezu aktiv verdrängt, denn in den Holzschnitten des Mittelalters kommt der Wal immer nur als Monster vor, das Menschen verschlingt. Für Lilly aber gebären Wal und Delfin einen neuen Menschen, der sich von den christlichen Vorstellungen von Schuld und Sühne endlich befreien kann.
Stundenlang lag Lilly in seinem Tank, dieser Ersatzgebärmutter, und träumte, sich selbst neu gebären zu können. Und um daran zu glauben, nahm er nach LSD auch noch jahrelang Ketamin. Jetzt wird er selbst zu Vater, Mutter und Kind, er wird zur heiligen Dreifaltigkeit in einer Person. Zu Rama Krishna, zu einem neuen Gott, zum LSDolphin. Statt mit "Lucy in the sky with diamonds" der Beatles sollte man künftig besser summen: "Lilly in the sea with dolphins".
Bis zu seinem Tod im Jahr 2001 beschwor er die Menschen, alles zum Schutz der Delfine zu tun. Er lebte auf Hawaii und gründete die Human/Dolphin-Foundation. Und vielleicht lernte er auch, in den für menschliche Ohren nicht hörbaren Frequenzen der Delfine zu reden. Jedenfalls war bei einem Interview mit einer Gesinnungsgenossin auf dem Tonband nichts zu hören sie hatten "in einer anderen Dimension" miteinander kommuniziert, in der Delfindimension. Bis dereinst Mittel erfunden sind, um das Rauschen jenes Tonbands in unsere Sprache zurückzuübersetzen oder mit Delfinen zu reden, werden wir nicht wissen, ob sich Lilly beim Schweben in seiner Salzlösung oder im Drogenrausch wirklich befreit hat.
Stefan Zweifel, Jahrgang 1967, hat mit Michael Pfister die zehnbändige Ausgabe von de Sades "Justine & Juliette" bei Matthes & Seitz übersetzt und ediert. Er lebt in Zürich. Seine Abneigung für Religiös-Esoterisches rührt aus seiner Beschäftigung mit de Sade, Hegel und den Surrealisten. Ein Freund von ihm lag schon mit zwölf Jahren in Lillys Tank in Kalifornien er bittet ihn um Nachsicht. Zweifel schreibt für "Das Magazin", "Weltwoche" und "Literaturen".